Hände

19 Jahre Einarbeitung sind mindestens 18 Jahre zu viel

Die Situation:

Vor einigen Jahren – ich war als Führungskraft in einem Unternehmen tätig. Eine Mitarbeiterin hatte bereits 17 Jahre dort verbracht. Verschiedene Abteilungen, dazwischen Elternzeit, anschließend Teilzeitbeschäftigung usw.

Mein Chef meinte zu mir: „Inga, mach etwas mit ihr.“
Ich: „Wo genau ist das Problem?“
Er: „Sie hat einfach noch nicht die Position gefunden, die zu ihr passt.“
Ich: „Okay, ich kümmere mich darum. Was kann sie denn?“
Er – mit einem kurzen Schulterzucken:„Schau es Dir einfach an. Du wirst schon einen Weg in deiner Abteilung finden.“

Ich schaute. Ich suchte. Ich suchte diesen „einen Weg“ – ganze zwei Jahre lang.

Zuerst gab es eine „normale“ Einarbeitung, wie für jeden, der neu in unsere Abteilung kam. Nach einigen Wochen dachte ich mir: „Okay, ich wechsele mal den einarbeitenden Mitarbeiter. Vielleicht braucht sie ja eine andere Herangehensweise.“ Gedacht, getan. Aber das war es nicht, wie sich bald herausstellte. „Gut, wir starten mit einem anderen Aufgabenkreis.“ Aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg.

Wir versuchten es mit Teilaufgaben… Fehlanzeige… mit einem Teil der Teilaufgaben… erneute Fehlanzeige…

Zwischendurch unzählige 4-Augen-Gespräche mit einem Verbrauch an unzähligen Papiertaschentüchern. Und immer wieder Fragen wie: „Wo und wie können und wollen Sie sich hier im Unternehmen einbringen? Wofür möchten Sie morgens aufstehen? Was ist Ihnen wichtig? Wie sollte ein Tag aussehen, damit Sie mit einem Lächeln nachhause gehen?“

Aber ein kam einfach nichts … keine Antworten … keine Gedanken … keine Ansatzpunkte…

„Okay, Cut, so kommen wir nicht weiter.“ meinte ich schließlich in einem dieser Gespräche und fragte vorsichtig weiter: „Urlaub, Auszeit?“

Da schob sie mir einen Antrag auf eine Mutter-Kind-Kur über den Schreibtisch.

„Na dann los“ sagte ich „ich stehe hinter Ihnen.“

Es dauerte nicht lange, da war die Kur bewilligt und Mitarbeiterin X erholte sich mit Ihrem Kind 3 Wochen lang an der See.

Als sie wieder kam, waren das Team und ich angenehm überrascht. Sie sah blendend aus, strahlte über das ganze Gesicht und betonte immer wieder, wie gut ihr die Kur getan hätte und wie dankbar sie sei.

Und die ersten 3 Wochen nach der Kur lief es auch blendend. Aber leider nur die ersten 3 Wochen. Dann rutschte Mitarbeiterin X wieder in altes Fahrwasser.

Das Team stöhnte auf – erst leise, dann immer lauter.

Man kann es Zufall oder Schicksal nennen, jedenfalls benötigte just zu dieser Zeit eine andere Abteilung dringend eine zeitlich begrenzte Unterstützung. Wäre das etwas für Mitarbeiterin X? Ich sprach mit ihr. Und nachdem ich ihr mehrfach versicherte, dass sie anschließend wieder zurück an ihren bisherigen Arbeitsplatz darf, übernahm sie den 3wöchtigen Einsatz.

„Es war gut und hat Spaß gemacht.“ berichtete sie anschließend. Doch sie wolle unbedingt wieder zurück ins Team. Na klar, das war ja abgemacht.

Und dann kam der Tag, an dem ich nur noch aus dem Fenster schaute und dabei tief durchatmete.

Anschließend rief ich meinen Businesspartner im Bereich Human Ressource an und bat um einen Termin. Meinem Tonfall entnahm er, dass es dringend war, und so saß ich direkt am nächsten Morgen in seinem Büro.

„Frau X“ sagte ich nur und er nickte. Und nach einer kurzen Pause meinte er „Ich habe es mir bereits gedacht. Was schlagen Sie vor?“

„Abfindung und einen Gutschein für ein Bewerbungscoaching“ platze ich heraus. Er sah mich mit großen Augen an: „Das schlagen aber Sie der Geschäftsleitung vor. Haben Sie Material?“

Und ob ich Material hatte, allein die vielen Gesprächsprotokolle…

Der Businesspartner suchte noch passende Angebote für das Bewerbungscoaching heraus, und so gingen wir gut vorbereitet zur Geschäftsleitung.

„Warum?“ wurde ich dort gefragt. Ich legte mein umfangreiches „Material“ vor und meinte: „Darum und, weil das Team nicht mehr kann, nicht mehr will … Wir können das einfach nicht mehr auffangen.“

„Aber warum dann noch ein Gutschein für ein Bewerbungscoaching?“ fragte die Geschäftsleitung weiter. „Weil wir 17 Jahre weggeschaut und so getan haben, dass Frau X hier bis zur Rente gut aufgehoben ist. Aber das ist sie nicht. Sie kämpft sich durch jeden einzelnen Tag. Und die Mitarbeiter nicht mehr gewillt, alles aufzufangen. Wir können Frau X keinen passenden Arbeitsplatz anbieten. Und sie selbst spürt überhaupt nicht mehr, was gut für sie ist. Deshalb auch das Coaching. Damit hat sie die Chance herauszufinden, was sie möchte.“

Jetzt war es raus. Der HR-Businesspartner nickte. Der Geschäftsführer lehnte sich zurück, blickte kurz aus dem Fenster und meinte dann „Okay, machen wir so.“

Mein Resümee:
Was für ein Geschenk, wenn Mitarbeiter ihrem Arbeitgeber langjährig die Treue halten. Klar, dass das Unternehmen damit zum Liebling am Bewerbermarkt avanciert. Zwei Hände würden kaum ausreichen, die ganzen Vorteile aufzuzählen, die für das Unternehmen und ihre Mitarbeiter aus dieser Situation erwachsen.

Doch wo Licht ist, gibt es immer auch Schatten. Niemandem ist geholfen, wenn Treue zur Last wird – für beide Seiten, wie bei Frau X. Vor allem für die Dame selbst. Daher heißt es: Genau hinschauen und handeln. Manchmal ist ein Neuanfang woanders für einen Mitarbeiter einfach die bessere Lösung. Und damit auch für das Unternehmen.