Tangotänzer

Der Tangotänzer

Ich leite das Team After Sales / Customer Service seit gut 2 Jahren. Wir haben ein solides Fundament geschaffen, darauf unsere erfolgreichen Prozesse aufgebaut und uns als Team gut eingespielt. „Der Laden läuft.“ kann man sagen. Das bleibt auch meinem Vorgesetzten und der Geschäftsleitung nicht verborgen und nach lobenden Worten gibt es natürlich einen weiteren Aufgabenkreis. Die Arbeit wächst, das Team leider nicht. Die Mitarbeiter werden langsam kribbelig und ich renne von einer Besprechung in die nächste, bis ich endlich das Go zur Einstellung neuer Leute habe.

Okay, aber ich möchte natürlich nicht jeden… Die Neuzugänge müssen schon etwas drauf haben und ins Team passen. Ich gestalte also einen Einstellungsprozess, durch den es mir in Zusammenarbeit mit meinem HR-Businesspartner möglich ist, die Kandidaten auf Herz und Nieren zu prüfen. Und, ich binde auch das Team in diesen Prozess mit ein, denn sie dürfen im Test-Kundentelefonat in die Rolle des Kunden schlüpfen.

Diesen Einstellungsprozess durchlief auch der Tangotänzer. Nein, der Kandidat stammte nicht aus Rio de la Plata sondern aus Mecklenburg Vorpommern und war vor vielen Jahren mit Familie ins Ruhrgebiet gezogen. Im Einstellungsgespräch wirkte er sehr nervös. Aber die Test-Kundentelefonate händelte er mit Bravour und überzeuge mich damit. Zusage, Vertragsunterzeichnung und los ging es. Die Kundentelefonate waren auch im oft stressigen Arbeitsalltag top. Jeder Kunde wurde freundlich verabschiedet. Bald konnte ich an seinem letzten Satz erkennen, ob es ein angenehmes oder schwieriges Gespräch war. Entsprechend änderte sich der letzte Satz:

  1. „Dann bedanke ich mich für das angenehme Gespräch und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
  2. „Dann bedanke ich mich für das Gespräch und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
  3. „Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen trotzdem noch einen schönen Tag.“
  4. „Danke für das Gespräch und einen schönen Tag noch für Sie.“

Konnte der neue Mitarbeiter den Kunden zufrieden aus dem Gespräch verabschieden, war auch er glücklich und sein Gesicht strahlte wie das eines Kindes an Weihnachten.

Was ich jedoch noch bemerkte: Seine Nervosität, die mir bereits im Bewerbungsgespräch aufgefallen war, bliebt – leider auch gegenüber den anderen Teammitgliedern, seinen unmittelbaren Kollegen. Außerdem fiel mir als ausgebildete Yogalehrende auf, dass er sehr flach und kurz atmete, was sich bei Nervosität auch in seiner Stimme zeigte, die dann hoch und piepsig wurde. Und so mancher Mitarbeiter konnte sich dann ein Lachen nicht verkneifen.

„Der macht es nicht lange.“ schoss es mir an einem solchen Tag durch den Kopf. „Entweder, er kippt mir hier um, oder er wirft das Handtuch. Ich muss mit ihm reden.“

Gedacht, getan. Gesprächstermin vereinbart und los ging es. Wieder war er sehr nervös, und so erzählte ich ihm zunächst einmal, was ich an seiner Arbeit schätze, welche seiner Fähigkeiten sehr wertvoll sind für unsere Abteilung und welche seiner Leistungen bereits positiv im Team wahrgenommen wurde. Langsam aber sicher zeigte sich sein kindliches Strahlen, und ich nutze dieses um ihn zu fragen, wie es ihm denn so ginge – mit den Aufgaben, mit den Kunden und auch mit den Kollegen. Er erzählte, natürlich nur Gutes. Ein Mensch wie der Tangotänzer würde nie und nimmer etwas Negatives sagen. Dann folgte ich spontan einem Gedanken, der mir, während er sprach, in den Kopf schoss: Vielleicht würde tanzen ihn locker machen… und ich fragte ihn nach seiner aktuellen Freizeitgestaltung. Er schaute irritiert und ich wurde genauer: „Was halten Sie vom Tanzsport? Würde Ihnen das Spaß machen?“ Er starrte mich mit großen Augen an. Sein kindliches Lächeln war verschwunden, und ich hatte auch den Eindruck, dass sämtliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Oh je, da hatte ich wohl einen riesen großen Fettnapf erwischt. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gerutscht und hätte von unten gejammert: „Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Es tut mir leid.“ Das ging natürlich nicht. Und so setzte ich zur Erklärung an, erzählte ihm, was mir aufgefallen war und dass ich überlegt hatte, was ihm vielleicht helfen könnte, entspannter zu werden. Da sei mir dann spontan das Tanzen eingefallen.

Noch immer blickte er mich mit großen Augen an, räusperte sich und begann zu sprechen:

Vor knapp 6 Jahren wurde sein Sohn geboren. Mit der Schwangerschaft seiner Frau und der Geburt des Sohnes hat sich logischerweise einiges in seinem Leben geändert. Vorher war er regelmäßig mit seiner Ehefrau zum Tangotanzen gegangen, und die Beiden waren auch richtig gut darin. Nun kommt der Sohn bald in die Schule und seine Frau hat das Thema tanzen wieder aufgenommen. Sie „nerve“ bereits seit einigen Wochen, wann sie denn wieder mit dem Tanzen beginnen wollen…

„Okay Frau Stein, wenn Sie da schon so drauf kommen… dann muss ich mich wohl aufraffen.“ meinte er und setzte dabei wieder sein kindliches Grinsen auf.

Dass er tatsächlich wieder mit dem Tanzen begonnen hatte und dass es ihm gut tat merkte ich ziemlich schnell an seinen Sätzen, mit denen er die Kunden verabschiedete. Satz 3 und 4 kamen so gut wie gar nicht mehr vor.

Fazit: Manchmal ist es hilfreich, über den Tellerrand zu schauen und gedanklich den Unternehmensraum zu verlassen, um geeignete Lösungen für Mitarbeiter, Team und Kunden zu finden.